Alkohol: "Kulturwandel statt Verharmlosung"
„Wir reden uns Alkohol bei Jugendlichen schön – aber die Realität ist bitter“
Ein Statement von Prof. Dr. med. Stephan Seeliger, MBA, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Allgemeines Krankenhaus Celle
Alkoholkonsum bei Jugendlichen ist kein neues Thema – aber ein weiterhin gefährliches. Zwischen 2019 und 2025 wurden in der Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses Celle 147 Fälle dokumentiert, in denen riskanter oder schädlicher Alkoholkonsum bei Jugendlichen unter 18 Jahren festgestellt wurde. Die Zahlen sind besorgniserregend: Nach einem pandemiebedingten Rückgang bis 2021 beobachten wir seit 2022 eine deutliche Zunahme – insbesondere bei jüngeren Mädchen.
Und genau das macht mir Sorgen: Mädchen holen auf. Während der Konsum bei Jungen über die Jahre relativ konstant blieb, ist die Kurve bei weiblichen Jugendlichen ab 2021 deutlich steiler gestiegen. Im Jahr 2024 lag der Anteil erstmals klar über dem der Jungen.
Auch die Altersverteilung hat sich verschoben: Waren es früher hauptsächlich 16- und 17-Jährige, sehen wir heute vermehrt 13- und sogar 12-Jährige, die entweder in auffälligen Konsummustern erscheinen oder gar mit Alkoholvergiftung stationär aufgenommen werden mussten. Die jüngsten Patientinnen in meiner Klinik waren 12 Jahre alt.
Deutschland zählt zu den europäischen Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Alkoholkonsum. Im Jahr 2018 wurden in der Bundesrepublik durchschnittlich 10,8 Liter reiner Alkohol pro Person (über 15 Jahre) konsumiert – ein Spitzenwert. Besonders alarmierend: 22 % der Kinder und Jugendlichen, die wegen einer Alkoholvergiftung stationär behandelt wurden, waren jünger als 15 Jahre.
Ja, es gibt Präventionsangebote. Das bundesweite Programm HALT – Hart am Limit existiert seit 2002 und wird auch im Landkreis Celle aktiv umgesetzt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen in Schulen, führen Gespräche, klären über Risiken auf. Aber Hand aufs Herz: Hat sich dadurch wirklich etwas verändert?
Ich glaube es nicht. Solange Alkohol gesellschaftlich akzeptiert ist – ja, sogar als Genussmittel stilisiert wird – sind alle Appelle an Jugendliche nur begrenzt wirksam. Wir trinken Bier zum Feierabend, Wein zum Essen, Whiskey als Männerritual. Jugendliche beobachten das. Und was wir ihnen in Worten sagen, wird durch unser Handeln entwertet.
Unsere Trendanalyse zeigt: Auch in den Jahren 2026 und 2027 ist mit einem leichten Anstieg zu rechnen. Besonders betroffen werden 13- bis 15-Jährige sein – eine Altersgruppe, die besonders verletzlich ist, weil Hirnreifung, emotionale Regulation und Gruppendruck aufeinanderprallen.
Was wir brauchen, ist kein weiteres Projekt, sondern ein Kulturwandel.
Wir müssen Prävention früher denken – in der Schule, in der Familie, in der Sprache. Wir müssen glaubhaft leben, was wir empfehlen. Und wir müssen aufhören, Alkohol schönzureden.
Denn Alkohol ist kein „normaler Teil des Aufwachsens“. Er ist ein Nervengift. Und für Kinder und Jugendliche ein echtes Risiko – für Körper, Gehirn und Leben.