Multiple Sklerose im Alter Geriatrie & Neurogeriatrie
Multiple Sklerose ist die häufigste nicht traumatische neurologische Erkrankung in Deutschland und die dritthäufigste Erkrankung hinsichtlich der Entwicklung schwerer Behinderungen. Zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr tritt diese Erkrankung am häufigsten auf - sie kann aber auch im höheren Lebensalter diagnostiziert werden.
Mit dem Altern steigt dabei auch die Inzidenz chronischer Erkrankungen wie Arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis sowie auch andere kardiovaskuläre Erkrankungen, den sogenannten Zivilisationskrankheiten. Mit höherem Lebensalter nimmt die Lebensqualität im Allgemeinen ab. Vor mehr als 30 Jahren ging man davon aus, dass die Lebenserwartung der MS-Patienten sich um 10 bis 15 Jahre verkürzen würde. Die Lebenserwartung hat sich jedoch bereits vor Einführung der modernen immunmodulatorischen Therapie verlängert – und sie nähert sich zunehmend der Lebenserwartung von gesunden Menschen.
Daher stehen zunehmend vielmehr die altersbedingten Erkrankungen im Fokus, die eine MS-Symptomatik verstärken können. Im Alter kommt es im Verlauf zu einer Abnahme der Kraft, der Ausdauer sowie zu einer Zunahme von Behinderungen im Alltag - und somit zu einer Einschränkung der Teilhabe am Alltagsleben. Inzwischen weiß man, dass es bei Betroffenen im Alter von über 50 Jahren von den Symptomen bis zur Diagnosestellung im Vergleich zu jüngeren Menschen ca. 5,4 Jahre im Durchschnitt dauert, an Multiple Sklerose zu erkranken. Bei Jüngeren beträgt die Dauer von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung im Durchschnitt 3,1 Jahre.
Das könnte darauf zurück zu führen sein, dass zum einen vielen noch nicht bewusst ist, dass auch nach dem 50. Lebensjahr Menschen an Multipler Sklerose erkranken können und zum anderen könnten die sogenannten Alterskrankheiten die Symptome einer Multiplen Sklerose kaschieren. Während eine Fußheberparese oder eine andere Gangstörung oder Sensibilitätsstörung bei einem jungen Mann direkt auch an eine MS-Erkrankung denken lassen könnte, könnten diese Symptome im Alter auch auf Polyneuropathien, degenerative Erkrankungen etc. zurückgeführt werden.
Die Symptome der Multiplen Sklerose im Alter können sich von denen bei jüngeren Menschen unterscheiden. Im Alter stehen eher Gangstörungen, Gleichgewichtsstörungen als Symptome einer Multiplen Sklerose im Vordergrund. Sehstörungen hingegen, dabei ist nicht die Rede von einer typischen altersbedingten Sehschwäche, treten im Alter bei neu an Multiple Sklerose Erkrankten seltener auf. Umso wichtiger sind eine gründliche neurologische Anamnese und Untersuchung. Im Mittel tritt eine Multiple-Sklerose Erkrankung bei älteren Menschen im Alter von 53,5 Jahren auf. In den meisten Fällen handelt es sich um eine schubförmige Form der Multiplen Sklerose.
Der Verlauf der MS ist recht individuell. Primär progredient sind etwa 10% der MS-Patienten im Alter, die meisten (85%) haben zu Beginn Schübe. Im Durchschnitt sind es anfangs 1,8 Schübe pro Jahr, im Lauf der Zeit werden es weniger. Fast alle MS-Patienten mit primären Schüben werden irgendwann sekundär progredient.
Bei den Patienten über 50 Jahren überwiegen motorische Funktionsstörungen sowie zerebelläre Störungen und eine Störung des autonomen Nervensystems. Die meisten dieser Patienten benötigen eine Gehhilfe, um eine Strecke von 100 m zurücklegen zu können. Viele sind nicht mehr in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen. Viele dieser Patienten klagen über Spastiken, Ganzkörperschmerzen, Schlafstörungen und Harninkontinenz oder Harnverhalt. Nicht wenige dieser Patienten geben depressive Symptomatiken wie Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit und eine innere Leere an. Nicht wenige haben dabei auch Suizidgedanken.
Eine Behinderung bei älteren MS-Patienten über 65 Jahren ist erheblich häufiger und ausgeprägter als bei jüngeren MS-Patienten. Damit geht eine massive Einschränkung im Alltag einher. Hinzukommt, dass viele der MS-Erkrankten im Alter alleine leben im Vergleich zu jüngeren MS-Erkrankten. Bei älteren MS-Patienten sind Toilettengänge häufiger, daher müssen sie nachts oft aufstehen, um die Toilette aufzusuchen, was nicht selten zu schweren Stürzen führt mit Oberschenkelhalsfrakturen und anderen Frakturen.
Der Verlauf der Multiplen Sklerose ist im Alter progredienter (schreitet also stärker/schneller voran), was unter anderem damit zusammenhängt, dass die MS-Medikamente im Alter nicht mehr so wirken wie bei jüngeren MS-Patienten. Die Schubrate hingegen scheint bei der schubförmigen Form der Multiplen Sklerose altersunabhängig zu sein. In der Tat zeigen über 65 -Jährige keine höhere Schubrate als jüngere MS-Patienten. Der chronisch-progredienter Verlauf ist jedoch bei MS-Patienten über 50 Jahren deutlich höher als bei jüngeren MS-Patienten. Bei einer aktiven MS, das heißt bei Schüben, neuen Läsionen in der Kernspintomographie oder klinisch relevanter Verschlechterung, ist eine MS-Therapie auch im Alter indiziert.